Tattoo Ausbildung? Warum wir im Tempel keine Ausbildung zum Tätowierer mehr anbieten
Anfragen für eine Tattoo-Ausbildung bzw. eine Ausbildung zum Tätowierer erreichen uns wöchentlich. Wir haben in den letzten Jahren einiges an Tattoo-Azubis ausgebildet, werden das aber zukünftig nicht mehr anbieten.
Zur besseren Lesbarkeit verwenden wir in diesem Artikel für männliche, aber auch weibliche und diverse Tattoo-Azubis ausschließlich die männliche Form. Wir bitten dies zu entschuldigen.
Wer sich ernsthaft mit dem Wunsch nach einer Ausbildung zum Tätowierer trägt, der ist vielleicht gut damit beraten den ganzen Artikel zu lesen. Die Zukunftsaussichten für Tätowierer sind nämlich gar nicht so rosig. Wem das zuviel Arbeit ist, der wird vermutlich auch nicht den Ehrgeiz haben, den man benötigt um Tätowierer zu werden.
Immer mehr Menschen möchten eine Tattoo-Ausbildung machen
Was nicht verwundert. Tattoos sind hype, Tattoos sind in, Tattoos sind in aller Munde und auf immer mehr Menschen.
Tattoostudios sprießen nicht nur in München wie Pilze aus dem Boden, in nahezu jedem Dorf gibt es inzwischen eine Tattooconvention. Auch die Sendungen über Tattoos werden immer mehr. Miami ink, Horror-Tattoos, Pain & Fame, Inkmaster. Dazu noch einige Formate auf Youtube. Dementsprechend möchten immer mehr Menschen eine Tattoo-Ausbildung machen. Dabei ist “Tätowierer” noch nicht einmal ein klassischer Ausbildungsberuf.
Tattoo-Flut in den sozialen Medien
Facebook und Instagram kann man nicht mehr öffnen ohne dass einem zig – oftmals richtig gute Tätowierer – vorgeschlagen werden denen man folgen soll. Da um Tattoos derzeit ein riesiger Hype ist, haben viele Tätowierer auf Instagram eine beachtliche Anzahl an Followern. Oftmals unter Einsatz von Bots und Autolikern, aber das ist wieder ein anderes Thema.
Tätowierer sind begehrt, teilweise berühmt und haben oftmals teure Stundensätze. Da ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass immer mehr Leute den Beruf erlernen wollen, der sie quasi über Nacht zum Star, Reich & berühmt macht. Die Rede ist vom Tätowierer, bzw. “Tattoo-Artist” (so nennt sich ja heutzutage ja fast jeder, der ein Strichmännchen in die Haut bekommt) oder gleich “Tattoo-Master”.
Unsere Erfahrung mit Tattoo-Azubis in den letzten 14 Jahren
Wir haben in den letzten 14 Jahren (Stand im Jahre 2021) ja dann doch einiges an Tattoo-Azubis gehabt bzw. angehende Tätowierer übernommen und weiter gebracht. Dies werden wir zukünftig bzw. nach unserem letzten Tattoo-Azubi Jenny (Update: 01.01.2022: Jenny ist kein Azubi mehr) nicht mehr machen und dafür haben wir folgende Gründe.
Es gibt schon zu viele Tätowierer
Es gibt schon genug bzw. eigentlich schon viel zu viele Tätowierer und wer heute noch ausbildet, schaufelt sich vermutlich sein eigenes Grab für morgen. Glaubt ihr nicht? Wo sich doch heute so viele Leute tätowieren lassen und die Tätowierer zum Teil so lange Wartezeiten haben?
Wartezeiten für ein Tattoo gehen fast überall nach unten
Nun, das mit den langen Wartezeiten mag für ein paar Superstars unter den Tätowierern noch gelten, aber selbst da ist die Anfrage heute nicht größer als vor ein paar Jahren. Bei der großen Masse gehen die Wartezeiten eher nach unten bzw. sind eigentlich schon gar nicht mehr wirklich vorhanden. Als ich 1995 mein erstes Tattoo bekommen habe, hatten wir in München sechs Tattoostudios.
Die Tätowierer haben sich damalsgrößtenteils noch geweigert Schriftzüge, Comicfiguren oder ähnliches zu tätowieren. Das konnten sich sich auch locker erlauben. Die Wartezeiten waren aber für ein kleines Standard-Tattoo trotzdem überall noch mindestens 3 Monate.
Im Jahre 2007 bei Tempel-Eröffnung – ca. 35 Tattoostudios in München
Als wir den Tempel 2007 eröffnet haben, waren wir ungefähr Studio Nummer 35 in München und hatten Anfangs einen Tätowierer. Bis ins Jahr 2018 hat sich die Anzahl der Studios locker verfünffacht – und in den meisten Studios sitzen mehrere bis viele Tätowierer. Inzwischen sind es noch einmal mehr geworden. Wieviele Tattoostudios es in München genau gibt? Das weiß vermutlich niemand mehr.
Die Wartezeiten gehen überall runter und die Tätowierer in den Studios sind alle zwischen Anfang zwanzig und größtenteils Ende 30. Das bedeutet.
Alleine in München müssen hunderte Tätowierer noch viele Jahre ihr Geld mit Tattoos verdienen
Fast jeder Tätowierer muss noch 20-30 Jahre oder länger Geld verdienen. Gleichzeitig kommen aber jeden Tag neue Tattoo-Azubis dazu. Auch diese wollen bzw. müssen für weitere 40 Jahre Geld verdienen. Dass das nicht funktionieren kann und wird -dafür genügt ein Blick nach Amerika.
In Amerika geht das Tattoo-Business schon unaufhaltsam nach unten
Ja, auch in den USA gibt es ein paar Superstars mit langen Wartezeiten und horrenden Stundensätzen. Aber man kann sich in jeder größeren Stadt in den USA am gleichen Tag via Walk-In-Tattoo in vielen, vielen Studios tätowieren lassen. Dort ist der Höhepunkt bereits überschritten und die Selbstzerfleischung via Preiskampf ist in vollem Gange.
Seit 2007 sind wir in jedem Jahr – Ausnahme 2020 wegen Corona – mindestens einmal in Amerika, sowohl an der West- als auch an der Ostküste. Meistens mehrmals. Viele Tattooconventions und Tattoostudios haben wir dort besucht. Dort haben wir genau das oben beschriebene bzw. den Niedergang der Preise und Wartezeiten über die Jahre live miterlebt.
Die Situation mit Tattoo-Azubis – erklärt am Beispiel des Tempel
Es ist doch in fast jedem Tattoostudio inzwischen das gleiche, aber wir möchten die Situation ganz kurz am Beispiel “Tempel München” erklären. Wenn wir einen Tattoo-Azubi oder angehenden Tätowierer in die Ausbildung nehmen, dann benötigt dieser von Haus aus schon einmal ein gewisses überdurchschnittliches zeichnerisches Talent, Ehrgeiz und Fleiß. Wer das nicht mitbringt, hat in den meisten Tattoostudios eher schlechte Karten überhaupt genommen zu werden.
Tattoo-Ausbildung – umfangreiches Wissen in kürzester Zeit
Wenn wir aber jemanden für eine Tattoo-Ausbildung nehmen, dann bekommt er in kürzester Zeit ein wahnsinnig umfangreiches Wissen mitgeteilt. Er oder sie bekommt von vielen verschiedenen Tätowierern die zum Teil schon 20 Jahre im Geschäft sind sämtliche Maschinen, Nadeln und Farben zum ausprobieren und etliche Techniken gezeigt.
Wir lernen unserem Tattoo-Azubi alles u.a. über Anatomie, Farben, Komposition, Anpassung an den Körper, welche Maschine mit welchen Einstellungen für welche Haut auf welche Körperstelle geeignet ist…. etc. etc. etc…
Den Kundenstamm gibt es obendrein noch vom ausbildenden Tattoostudio obendrauf
Wenn der auszubildende Tätowierer dann mal weit bzw. gut genug ist, dann hat er in kürzester Zeit durch unseren Namen und die viele, viele Zeit und Arbeit die wir in dieses Studio gesteckt haben einen großen Kundenstamm.
Wir haben ihm inzwischen nicht nur die Technik beigebracht, sondern z.B. auch wie man optimal vorbereitet auf Tattooconventions fährt. Wie man dort mit guter bzw. optimaler Vorbereitung Preise gewinnen kann. Wir haben auch für dieses Wissen viele Jahre, Messebesuche, Zeit und Geld investiert. Unser Azubi bekommt das während der Tattoo-Ausbildung zwangsläufig alles mit. Was ihm wiederum mehr Ruhm und noch mehr Kunden bringt…
Die Tattoo-Ausbildung ist quasi vorbei. Der Azubi braucht den Meister nicht mehr
…und irgendwann kommt dann unter Umständen der Punkt, wo der fertige (?) Tätowierer feststellt, dass er das Studio das ihn ausgebildet hat eigentlich gar nicht mehr braucht.
Er hat vom Studio eine zumindest solide Arbeitsgrundlage bekommen. Zudem ist er künstlerisch und technisch auf einem hohen Level. Von uns hat er einen großen Kundenstamm von dem ihm mindestens die Hälfte in den sozialen Netzwerken folgt.
An diesem Punkt ist der ehemalige Auszubildende oftmals einfach weg. Die Kunden die wir größtenteils erst zu ihm gebracht haben gleich mit dazu.
Die Kundschaft gratuliert ihm artig zu diesem Schritt, weil sie ja ohnehin noch nie verstanden hat warum der Tätowierer sich nicht selbständig macht.
Dass im Tempel ein halbes Dutzend Tätowierer arbeiten, die alle schon ein eigenes Studio hatten und sich den Streß nicht mehr antun wollen? Interessiert niemanden.
Dass es Weltklasse-Tätowierer gibt, die sich lieber auf ihre Arbeit als die Studioführung konzentrieren wollen? Ebenfalls uninteressant.
Dass die Tätowierer in einem großen Studio vom Austausch untereinander, den Gästen aus aller Welt und den damit verbundenen Neuerscheinungen/Techniken die ins Studio gebracht werden unheimlich profitieren und sich ständig weiter entwickeln? Dass es einem Tätowierer, der noch keine drei Jahre tätowiert nicht schaden würde, auch weiterhin mit Hilfe der Kollegen noch besser zu werden? Ebenfalls Geschenkt.
Die Geschichte mit der Tattoo-Ausbildung ist an dieser Stelle noch nicht vorbei. Sie geht weiter, nur an anderer Stelle
Doch an dieser Stelle endet die Geschichte meistens leider nicht, sonst wäre das ja auch alles gar nicht so schlimm. Nach einiger Zeit im eigenen Tattoostudio stellt der Tätowierer dann auf einmal eines fest:
“Mist, ich hab jetzt zwar eine Menge Arbeit mehr – aber deswegen noch lange nicht mehr im Geldbeutel”
Da muss auf einmal Miete und Strom selbst gezahlt werden, auch wenn der Tätowierer im Urlaub, krank, auf Guestspot oder auf einer Tattoomesse ist. Auch wenn ein Kunde plötzlich absagt. Das Tattoostudio muss versichert werden, auf einmal kommt die Gema ebenso wie die GEZ. Bescheide von der IHK flattern ins Haus, denn auch in dieser muss man als Tätowierer drinnen sein.
Der junge Tätowierer stellt fest, dass sich das mit der Selbständigkeit für einen alleine gar nicht lohnt. An diesem Punkt hat der Tätowierer eine brilliante Idee, manachmal sogar zwei:
a.) Tattoo und Piercing gehören zusammen, ich hole mir noch einen Piercer ins Studio, ist ja eh schnell gelernt… (was wiederrum einen Extra-Artikel wert wäre….)
oder / noch besser und:
b.) Ich bilde einen Tattoo-Azubi aus, damit ich mehr Einnahmen generiere. Er lernt seinem Azubi alles was er im Tempel gelernt hat, bringt ihm Arbeiten und Kunden…. und auch dann wiederholt sich diese Geschichte…
Nicht zuletzt darum hat sich die Anzahl der Tattoostudios in München mehr als ver-zig-facht
Womit im Schnelldurchlauf dann erklärt wäre, warum sich die Zahl der Tattoostudios in München von 1995 bis 2011 ca versechsfacht hat. Dann von 2011 bis 2018 noch einmal versechsfacht. Oder es heute sicherlich einhundert mal mehr Tätowierer in München gibt, als in dem Jahr in dem ich mein erstes Tattoo bekommen habe.
Das wird die kommenden Jahren so weiter gehen. Die Anzahl der Tätowierer die jeden Tag in München Geld verdienen müssen, beträgt aktuell locker ein paar hundert, wenn es nicht sogar schon mehr als tausend sind. Tätowierer, nicht Studios wohlgemerkt.
Aktuell funktioniert es so gerade noch. Bald ist aber – wie in den USA – der Punkt erreicht, wo das Angebot die Nachfrage übersteigen wird.
Dazu kommt noch die EU-Osterweiterung
Der EU-Osterweiterung sei Dank, sitzen rechts von Deutschland noch ein paar tausend hochtalentierte Jungs und Mädels, für die die Verdienstmöglichkeiten in Deutschland einfach ein Traum sind.
Ungarn, Polen, Tschechien… fast täglich bekommen wir Anfragen von Tätowierern aus diesen Regionen, ob wir nicht einen Job für sie haben. Von den – nicht so ganz zur EU gehörenden – Russen wollen wir an dieser Stelle noch gar nicht reden.
Warum? Sind die Menschen dort wirklich talentierter als in Deutschland? Schwer vorstellbar, dass künstlerische Begabung durch die Herkunft bestimmt wird – das ist natürlich nicht so. Aber die Leute dort drüben sind oftmals noch hungrig, haben kein soziales Netz wie bei uns und nutzen halt die Chance, die ihnen eröffnet wird.
Zurecht: sie zeichnen, zeichnen und zeichnen und üben, üben üben… prominente Vorbilder die es zum Erfolg im Westen gebracht haben, haben sie inzwischen ja genug.
Über kurz oder lang wird der Tattoomarkt – eine Szene ist es schon lange nicht mehr – komplett zusammenbrechen. Die, die keine Arbeit haben werden die Preise kaputt machen, die die sich die Studiomiete nicht mehr leisten können werden zurück in die Küche und auf die Couch verschwinden. Wo sie noch billiger tätowieren können.
Das ist die Entwicklung, wir werden sie nicht großartig beeinflussen, geschweige denn aufhalten können. Aber wir sind in der glücklichen Lage, dass wir genug hochkarätige & loyale Künstler haben mit denen wir schon lange arbeiten. Außerdem bewerben sich auch mehr als genug fertige Tätowierer bei uns, die in ihren Studios keine Arbeit haben.
Fazit: es gibt bereits mehr als genug gute und sehr gute Tätowierer – wir haben das Kapitel “Tattoo-Ausbildung” im Tempel für beendet erklärt. Danke für die Aufmerksamkeit.
Stephan Tempel
PS: Das ist im übrigen absolut nichts persönliches gegen die, die einmal bei uns waren und jetzt ihr eigenes Tattoostudio haben. Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir mit allen ehemaligen äußerst gut sind. Aber wir haben halt nur aus der allgemeinen Entwicklung das obige Fazit gezogen.